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Kai Buhrfeindt vom Frankfurter Weinrestaurant Grand Cru müsste beim Titel dieses Beitrags eigentlich aufhorchen, denn so nennt er in dem ihm eigenen Understatement und nur scheinbar despektierlich gereifte Weine – vornehmlich von exzellenter Qualität. Ich durfte im nun zu Ende gehenden Jahr eine ganze Reihe reifer Weine nicht nur verkosten, sondern wahrhaftig trinken, und diese will ich im Folgenden Revue passieren lassen.

1992 Château Pichon-Longueville Comtesse de LalandeEinige Weine stammten dabei auch tatsächlich aus Kais Bestand, andere aus den Kellern von Kollegen und Freunden im Rhein-Main-Gebiet, in der Region Nürnberg sowie in Heidelberg, Leipzig und Wien. Einzelne Weine habe ich bereits in anderen Blogbeiträgen besprochen (etwa „Mann und Wein gesellt sich gern“ und „Zehn plus drei“), und auf diese werde ich hier nicht nochmals eingehen. Prinzipiell werde ich mich nur auf die Weine beschränken, die ich erstens in privatem Rahmen (und nicht auf einschlägigen Veranstaltungen) genoss und die zweitens „wirklich alt“ waren, das heißt, aus Jahrgängen stammten, die mit eins-neun beginnen; eine kleine Reise durch das 20. Jahrhundert also.

Januar bis März

Die Reihenfolge entspricht der Chronologie, in der ich die Weine im Laufe des Jahres kredenzt bekam – und diese begann im Januar mit dem 1992 Château Pichon-Longueville Comtesse de Lalande Pauillac Grand Cru Classé; allerdings habe ich zu diesem Wein leider (und unerklärlicherweise) keine Verkostungsnotizen gemacht.

1995 MammoloEbenso wenig liegen – gleichermaßen bedauerlich – aus dem Februar Aufzeichnungen zum 1997 Blaufränkisch Point von Kollwentz (Burgenland),
zum 1978 Château Ducru-Beaucaillou (Saint-Émilion, Bordeaux) und zum 
1998 Cuvée Maxime von der Domaine Borie de Maurel (Minervois, Languedoc-Roussillon) vor. Zum 1995 Mammolo von Cennatoio (Toskana) weiß ich immerhin zu kolportieren, dass er „wunderschön gereift“ war und hervorragend zu Perlhuhn gepasst hat.

1989 Rüdesheimer Klosterberg Riesling Kabinett trocken und 1983 Johannisberger Vogelsang Riesling KabinettIm März gab es zwei Schätzchen vom Landgräflich Hessischen Weingut in Johannisberg (Rheingau): 1989 Rüdesheimer Klosterberg Riesling Kabinett trocken und 1983 Johannisberger Vogelsang Riesling Kabinett. Mein – vielleicht etwas dürftiger – Kommentar dazu: „Der 83er war noch besser als der 89er. Aber beide in bester Verfassung.“

1996 La Demoiselle de Sociando-MalletEbenfalls im März probierte ich den 1996
La Demoiselle de Sociando-Mallet (Haut-Médoc, Bordeaux)
und befand: „Jetzt auf dem Höhepunkt. Ein leidenschaftlicher Genuss!“ Er gehörte nicht zu der Verkostung mehrerer gereifter Bordeaux am selben Wochenende, die aber eher offiziellen Charakter hatte und daher hier ausgeklammert wird.

April

1982 Neuburger Spätlese trocken1982er Neuburger Spätlese trocken, Leberl (Burgenland)
Mein Kommentar: „Es ist mir eine Freude und Ehre: edle Firne, nussig und vegetabil, Karamell und kandierte Zitrusfrüchte, lebendige Säure, gute Struktur und Nachhaltigkeit; hat schon unbestreitbar den Kuss des Todes, tanzt aber jetzt mit Leidenschaft seinen letzten Tanz. Schön, das zu erleben – und ein Genuss für Liebhaber reifer Weine (wie mich).“

1985 Gewürztraminer trocken1985 Gewürztraminer trocken,
Gräflich Stürgkh'sches Weingut (Steiermark)

Ich notierte zunächst: „Minze, Rosenholz, reife gelbe Früchte, Piment, salzige Mineralik, Kraft, Schmelz und Tiefgang. Braucht mehrere Stunden an der Luft, um wach zu werden, und zeigt sich dann einigermaßen zeitlos; gereift ja, aber auch noch mit etlichen Jahren Potenzial. Ein Wein, der sowohl dem Begriff ‚Gewürz‘-Traminer als auch seiner aristokratischen Herkunft vollauf gerecht wird: beeindruckend und sehr genussreich!“ Und am nächsten Tag: „Hat nach rund neun Stunden an der Luft völlig zu sich gefunden und präsentiert sich in geradezu strahlender Souveränität. Ob gratinierter Blauschimmelkäse oder Erdbeeren mit Schokoladen-Orangen-Sauce – den schreckt gar nix.“

Mai

1984 Cabernet Sauvignon1984 Cabernet Sauvignon, Viña Santa Rita (Maipo)
Diesen Chilenen beschrieb ich wie folgt: „Pfeffer, Tabak, getrocknete Kräuter, Paprika, angetrocknete dunkle Beeren (Cassis, Brombeere), Sauerkirschen, zart gewürzig, kühl, etwas zedrig, straff, geschliffen, fein gereift und nachhaltig; erreicht jetzt seine Grenze (noch nicht welk, aber am Beginn des Verblühens). Ein großer, faszinierender Genuss!“

August

1996 Hochheimer Domdechaney Riesling Spätlese1996 Hochheimer Domdechaney Riesling Spätlese, Domdechant Werner‘sches Weingut (Rheingau)
Mein Urteil: „So geht Wein; Riesling; Rheingau. Noch vollkommen jugendlich – Steinobst und Zitrusfrüchte, Karamell, viel Schmelz. Ein Hochgenuss – und eine Offenbarung zu Pfirsichsüppchen mit -parfait und Minze. Unerreicht.“

Oktober

1981 Ruster Ausbruch1981 Ruster Ausbruch, Wenzel (Burgenland)
Meine begeisterte Notiz: „Was für ein monumentaler Wein! Feigen, Steinobst, Karamell, Kandis, leicht oxidativ, Honig, Tabak, feine Säure, Schmelz, extrem komplex, offenbart alle paar Minuten neue Aromen, kandierte Nüsse, Esskastanien, Limetten, Orangenzesten, getrocknete Aprikosen... sehr nachhaltig und lang. Ist schon etwa eine Woche offen und präsentiert sich in zeitloser Souveränität; hätte buchstäblich 100 Jahre alt werden können.“

Der Oktober birgt aber auch ein Rätsel: Von drei weiteren alten österreichischen Weinen, die ich in diesem Monat probierte – und zwar nachweislich alle am selben Abend –, habe ich zwar Fotos, aber keinerlei Beschreibungen. Unglücklicherweise hatte an den Etiketten auch noch der Zahn der Zeit derart genagt, dass auf den Bildern nur schwer erkennbar ist, um welche Weine es sich überhaupt handelte. Rekonstruieren lässt sich nur noch, das der erste Wein eine Blaufränkisch Beerenauslese aus den 1980er Jahren vom Weingut Allacher (Burgenland) war, die ohne irgendwelches Aufspriten als Süßwein sagenhafte 14 Volumenprozent Alkohol hatte; der zweite Wein stammte vermutlich ebenso aus den 1980er Jahren und kam von der Krems, ein Hollenburger Grüner Veltliner vom Weingut von Geymüller (Niederösterreich); der dritte Wein war eine Mörbischer Neuburger Beerenauslese mindestens ähnlichen, wenn nicht gar höheren Alters vom Weingut Schneeberger (wiederum Burgenland).

November

1988 Tattendorfer St. Laurent1988 Tattendorfer St. Laurent, Aichinger (Thermenregion)
Ich hielt fest: „Ruhe im Saal – aufgepasst: 25 Jahre alter Sankt Laurent, jetzt auf dem Höhepunkt und unfassbar komplex. Sensorisch nicht älter als zehn Jahre, erinnert an Cabernet Franc oder Schwarzriesling. Nach fünf Stunden in der geöffneten Flasche trumpft er im Glas erst richtig auf und entwickelt sich über zwei Stunden ständig weiter. Beginnt in der Nase mit kandierten Erdbeeren, Cassisgelee, Gewürzen und Süßholz; im Mund von vornherein straff und sehr fokussiert mit fester Struktur, Cassis und Sauerkirschen, getrocknete Kräuter, Tabak, kühle Mineralik. Wird mit der Zeit immer dunkler in der Aromatik, Oliventapenade, Pflaumen(-mus), Leder, Teer, animalisch, Brombeeren, Lorbeer, Pfeffer, später Zigarrenasche. Vollkommen selbstverständlich und unprätentiös, tief und sehr lang; im Vordergrund steht die klare, geschliffene Frucht, unterfüttert mit feiner, erdiger Würze und getragen von sanft bezwingender Mineralität. Und er hat keine 13 Volumenprozent Alkohol. Das ist nicht nur der beste Rotwein, den ich in diesem Jahr getrunken habe – das ist einer der besten Rotweine, die ich jemals im Leben getrunken habe (wenn nicht überhaupt der beste).“

Château Puyblanquet Carrille1978 Château Puyblanquet Carrille Saint-Émilion Grand Cru (Bordeaux)
Was ich hier schrieb, war schon beinahe ein Nachruf: „Es ist ein zweifelhaftes Vergnügen, den Tod eines Weins mitzuerleben. Schon sofort nach dem Öffnen war er ziemlich gebrechlich (kandierte Nüsse, Karamell, überlagerte Gewürze), aber dann holte er noch einmal tief Luft und straffte sich mit letzter Kraft zu erkennbarem Bordeaux-Format (getrocknete Kräuter, dunkle Beeren, Tabak, Leder), bevor er sich endgültig niederlegte und entschlief (animalisch, herb-würzig, zunehmend oxidativ). Ein ehrenvoller Abgang in einem sensorisch wirklich hohen Alter.“

1982 Dom Pérignon1982 Cuvée Dom Pérignon, Moët & Chandon (Champagne)
Ich kommentierte: „Das war ein unvergessliches Erlebnis: ein über 30 Jahre alter Champagner in vortrefflicher Verfassung! Kupferfarben. In der Nase Karamell, Walnüsse, kandierter Ingwer, Blumenkohl, Mandeln, Mirabellen, Zimt. Im Mund Haselnüsse, Nougat, gelbe Früchte (Aprikosen, kandierte Orangen, Quitten), Butter, Walderdbeeren, sehr feine Perlage, lebendige Säure, filigran, Zitrus, Mineralik im Hintergrund, Karamell, Mokka, brauner Zucker, Anklänge an Kräuter (Thymian), Crème brûlée, Marzipan, Tabak, kandierte Ananas, Leberpastete; Schmelz und Schliff, nachhaltig, komplex. Geradezu überschwänglich in seinem Aromenreichtum, ständig neue Akzente, dabei sehr stabil und keinerlei Ansatz von Müdigkeit; hervorragend gereift. Im leeren Glas halten sich noch stundenlang Walnüsse, Esskastanien und Toffee. Ein denkwürdiger, großer Genuss.“

1992 Winkeler Hasensprung Riesling Spätlese1992 Winkeler Hasensprung Riesling Spätlese, Schloss Schönborn (Rheingau)
Am dritten Tag nach Öffnen der Flasche protokollierte ich: „Ist mit seinen 21 Jahren generell jetzt in Bestform, und dieses Exemplar zeigt sich auch von zwei Tagen an der Luft völlig unbeeindruckt: erkennbar gereifte Aromatik zwar, aber weiterhin sehr frisch, geprägt von Karamell, Minze und einer lebendigen Säure. Macht Spaß!“

Da ich im November insbesondere die letzten drei genannten Weine im eingangs erwähnten Grand Cru in Frankfurt erleben durfte, an dieser Stelle noch ein Wort über mein Lieblings-Weinrestaurant in der Mainmetropole: Dass ich an zwei aufeinander folgenden Wochenenden jeweils das gleiche Sieben-Gänge-Menü mit Weinbegleitung wählte (obwohl die Speisekarte genug Abwechslung geboten hätte), möge als deutliches Zeichen für das begnadete Wirken von Küchenchef Sebastian gelten, der stilsicher und kreativ höchst genussreiche Kompositionen zaubert, während die „Maîtres“ Suat und Tim ebenso locker wie souverän die Gäste betreuen und immer die passende Weinempfehlung parat haben – einschließlich Überraschungen jenseits der Karte.

Dezember

1982 Château Mouton-Rothschild1982 Château Mouton-Rothschild (Pauillac, Bordeaux)
Meine Beschreibung: „Ziegelrot. In der Nase sehr fein und komplex, Gewürze, Zedernholz, Pfeffer, getrocknete Kräuter, Malz, leicht animalisch, angetrocknete rote und schwarze Beeren, Tabak; mit Luft auch Suppenfond, Eukalyptus, Speck. Im Mund sehr geschliffen und fein, teilweise getrocknete Kräuter, Gewürze, vegetabil, angetrocknete Beeren, Dörrpflaumen, Tabak, sehr feiner Säurebiss, mürbes Tannin, etwas Schokolade und Malz, vollmundig, dabei sehr geradlinig, kühle Mineralik, erdig, seidige Textur, sehr lang, im Abgang Himbeeren; mit Luft immer straffer, Sauerkirschen, Zedernholz, Hagebutten, große Finesse, komplex, in sich ruhend, elegant und fast schwebend leicht, gleichzeitig aber fest und sehr präzise gezeichnet, gewisser Schmelz, minutenlanger Nachhall von Datteln im Speckmantel und Bitterschokolade. Auf dem Höhepunkt – in einem Wort: wunderschön.“

1997 Château Poujeaux1997 Château Poujeaux, Jean Theil (Moulis-en-Médoc, Bordeaux)
Ich befand zum Duft: „Gewürze, leicht animalisch, getrocknete Kräuter, etwas Leder, Schokolade, Kokos, angetrocknete dunkle Beeren, Tabak, Zedernholz“; und zum Gaumeneindruck: „Agave (Tequila), Cassis, Brombeere, Sauerkirsche, markante Säure, getrücknete Kräuter, Gewürze, kühl, recht mürbes Tannin, Tabak, Zedernholz, Kraft, Schliff, Nachhaltigkeit.“

1994 Château Canon1994 Château Canon Saint-Émilion Premier Grand Cru Classé , Fournier (Bordeaux)
Trotz der hoch dotierten Herkunft schien dieser knapp 20 Jahre alte Bordelaiser schon nicht mehr in allerbester Form zu sein; etwas in seiner Aromatik erinnerte deutlich an Whisky: „Muskat, Liebstöckel, etwas Nagellack, Zedernholz, Tabak, getrocknete Petersilie, Rosmarin, Torf und Jod in der Nase; im Mund Gewürze, Tabak, dunkle Beeren, getrocknete Kräuter, wieder Jod und Torf, leicht trocknend, Sauerampfer, etwas Mineralik, eher langweilig, wenig Leben.“

Zwei Wochen vor Weihnachten bereitete mir Marco Sittig von meinem Nürnberger Stammlokal Lachenschmidt noch eine besondere Überraschung und Freude. Wir probierten gemeinsam einen über 40 Jahre alten Bas-Armagnac aus dem Hause de Marvaut – und weil Armagnac zumindest Weinbrand ist, soll auch dieses Destillat, mit dunkler Bernsteinfarbe im Glas schimmernd, hier Erwähnung finden. Ich notierte: „In der Nase Tabak, kandierte Orangen, getrocknete Feigen und Aprikosen, Dörrpflaumen, dunkles Karamell, etwas medizinal, Nougat, Walderdbeeren, Milchkaffee. Im Mund komplex und tief, Karamell, Feigen, Pflaumenmus, Tabak, Nougat, Kräuter, Waldhonig, Vanille, wohlige Wärme, nachhaltig, lang; bleibt etliche Minuten mit Aromen von kandierten und getrockneten Aprikosen und Orangen, Kräutern sowie Karamell am Gaumen stehen.“ Ein würdiger Abschluss: des damaligen Abends ebenso wie jetzt dieses Berichts. Auf hoffentlich viele weitere Altwein-Entdeckungen 2014!