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Der Gedanke kam mir in der Kantine. Weil die Kolleginnen außer Haus oder sonstwie verhindert waren, musste ich allein zu Mittag essen. Das kommt glücklicherweise selten genug vor, und auch abends esse ich lieber in Gesellschaft, zumal wenn im Restaurant. Daran dachte ich, genauer: an die Abende, an denen ich ohne Begleitung in Restaurants gespeist hatte, und was sie von dieser Situation mittags unterschied.

Irgendwie empfand ich die abendlichen Single-Dinners, die häufig sogar keine Verlegenheitslösungen, sondern in vollem Bewusstsein so gestaltet gewesen waren, als weniger „einsam“, als „unterhaltsamer“. Woran lag das?

Die Antwort hatte ich recht schnell gefunden: Es lag am Wein. Wenn ich auswärts esse, trinke ich immer Wein dazu. Aus Genussfreude, aus Neugier, aus Konvention – als hedonistischer Weinliebhaber mit inzwischen einem gewissen Sachverstand eben. Und der Wein ist es, der ein Essen allein nicht einsam werden lässt. Der Wein ist dann gewissermaßen meine Begleitung; er begleitet nicht nur das Menü kulinarisch, sondern auch mich als den dieses Verzehrenden kommunikativ. Nicht, dass ich laut im Lokal mit dem Glas vor mir spräche („Weinansprache“ heißt ja nämlich, anderen Menschen gegenüber einen Wein zu beschreiben, also über ihn zu sprechen). Doch es findet schon eine Art Austausch zwischen dem Wein und mir statt: ein sensorischer Austausch, der zu einem quasi-intellektuellen wird.

Denn jeder Wein hat eine Persönlichkeit. Sie kann ausdrucksstark und eigenwillig sein, sie kann zurückhaltend oder gar langweilig sein, sie kann überraschend sein – sie hat Eigenschaften, die wahrnehmbar sind und mit denen man sich auseinandersetzen kann. Ich tue das automatisch und gern bei jedem Schluck. Und die Persönlichkeit wandelt sich mit der Zeit. Der Wein verändert sich je nach Temperatur, nach Sauerstoffkontakt und nicht zuletzt im Zusammenspiel mit dem Gericht, zu dem er getrunken wird. Jeder Schluck offenbart andere Geruchs- und Geschmacksempfindungen. Der Wein „erzählt“ sensorisch von sich, gibt immer mehr und andere Nuancen preis, er interagiert mit anderen Aromen der Mahlzeit – im besten Fall. Im schlechteren Fall passt er nicht zum Essen (dann erzählt er auch was, aber das will man nicht hören), oder er wird von den Speisen dominiert (dann hört man ihn nicht mehr erzählen), oder er ist insgesamt schwach (dann redet er generell zu leise oder hat kaum was zu sagen).

Auf diese Weise wird der Wein zum Gesprächspartner. Dafür braucht man übrigens auch gar nichts dazu zu essen. Ein Wein spricht auch für sich allein. Man muss nur zuhören.

Nachwort

  1. Weine sprechen nicht nur abends; wann immer man Wein probiert, zu jeder Tages- und Nachzeit, bekommt man – je nach eigener Stimmung und Verfassung – sensorische Geschichten erzählt, mal mehr, mal weniger, mal oberflächlicher, mal tiefer.
  2. Nicht nur Weine sprechen. Auch andere Getränke wie Whisky, Cognac oder Armagnac erzählen Geschichten; Schaumweine sowieso, und alle anderen Destillate außer den genannten auch.
  3. Menschen, die verstehen, dass man über einen Wein sprechen kann (und dies vorzugsweise auch selbst tun), verstehen auch, dass man mit einem Wein sprechen kann – oder sich zumindest von ihm etwas erzählen lässt, besonders, wenn gerade niemand anders da ist.