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In der Frankfurter Kaiserstraße, wenige Meter vom Hauptbahnhof entfernt, liegt in einem schmucken Haus aus der vorvergangenen Jahrhundertwende das Frankfurt Hostel. Hier gibt es auch eine voll ausgestattete Küche, die die Gäste nach Belieben benutzen können, und das taten österreichische Freunde von mir (ein Ehepaar), die sich zeitgleich mit mir in der Stadt aufhielten und sich im Hostel einquartiert hatten. Sie luden mich zu einem außergewöhnlichen und unvergesslichen Abendessen ein.

Aufenthaltsraum im Frankfurt HostelDie Küche im Frankfurt Hostel ist Teil des zentralen Aufenthaltsraums, in dem neben Tischen und Stühlen, einem großen Sofa sowie einem Bartresen mit entsprechenden Hockern auch (an einer Ecke des Tresens) die Rezeption untergebracht ist – ein trubeliger (aber keinesfalls unangenehm lauter oder hektischer) Ort, an dem das multinationale Leben pulsiert. Und in dieser auf ganz eigene Weise zugleich kosmopolitischen und intimen Atmosphäre kochten, speisten und tranken wir aufs Schönste, wobei ein gewisses Improvisationsmoment den besonderen Reiz ausmachte. In der Kleinmarkthalle hatte der Freund feine Lebensmittel erstanden, Wein steuerte ich bei (Weißwein und Champagner noch aus Silvester-Beständen, Rotwein aus einer Weinhandlung in der Frankfurter Innenstadt), mit halbwegs angemessenen Gläsern half uns gegen ein geringes Entgelt der Fisch-Imbiss Gosch im Hauptbahnhof aus, und wir hatten das Gefühl, mitten in Frankfurt in einer anderen Welt zu sein.

Um uns herum saßen Menschen im Alter zwischen 20 und 60 aus Europa, Asien, Nord- und Südamerika, tranken meist Bier, aßen Nudeln, Döner oder Pizza, redeten miteinander in diversen Sprachen oder waren in ihr Smartphone oder Laptop vertieft und kommunizierten auf diesem Weg über Skype oder soziale Netzwerke mit anderen Menschen irgendwo in den Ländern der Erde... „Wenn man sich das hier so ansieht, könnte man meinen, die Welt sei voller netter junger Leute“, sagte die Freundin, und das stimmte: Unbeschwert, freundlich und aufgeschlossen gingen alle miteinander um. Und mittendrin wir mit unserem selbst gebastelten „High-End-Dinner“ – unaufgeregter und noch nicht einmal als exotisch wahrgenommener Teil des Spektakels; mit guter Stimmung und Gleichmut ist alles möglich.

Dass wir eigenen Wein konsumieren dürften, hatten wir vorher erfragt und zahlten selbstverständlich bereitwillig ein Korkgeld, denn üblicherweise ist den Genuss mitgebrachter alkoholischer Getränke im Aufenthaltsraum des Hostels nicht gestattet, um etwelchen Gelagen vorzubeugen. Dementsprechend handhabten wir auch den Flaschenumgang diskret.

Drei Weinflaschen: 2011 Neuburger Smaragd von Schneeweis, 2007 Cuvée Prestige von Yves Couvreur, 2001 Saint-Aubin 1er Cru von Hubert LamyVorweg gab es Speck vom Magalitza-Schwein und eine pikante, luftgetrocknete Schaf-Salsiccia aus Kalabrien, außerdem einen Korb mit Bauernbrot. Dazu erwies sich der 2011er Neuburger Smaragd von Schneeweis als vortrefflicher Partner: gehaltvoll mit vegetabilen und nussigen Aromen sowie Noten von Kernobst und zarter Würze. Dass der Wein sich seit dem Öffnen der Flasche noch fünf Tage (gekühlt) hatte entfalten können, tat ihm merklich gut, denn er präsentierte sich rund und vollmundig mit viel Kraft und Schmelz.

Zum schlotzigen Rührei mit schwarzer Trüffel (ohne viel Aufhebens) passte sehr gut der geradlinige und nicht zu schlanke 2007er Champagne Cuvée Prestige von Yves Couvreur mit Aromen von gelben Früchten, Nüssen, Getreide, Brioche und dunklen Beeren.

Der Hauptgang bestand aus in der Pfanne gebratenem Mangalitza-Kotelett mit Wildkräutersalat – mehr als würdig begleitet vom 2001er Saint-Aubin Premier Cru „Derrière Chez Édouard“ von Hubert Lamy, der mit etwas Zeit an der Luft seine ganze Vielfalt und Feinheit offenbarte: zuerst leicht animalisch, dann Schwarzkirschen, Gewürze (Nelken, Lorbeer), teilweise getrocknete Kräuter (Liebstöckel, Basilikum), Brombeeren und Mineralik; er zeigte Schliff, große Eleganz, Tiefe und sehr gute Nachhaltigkeit – ein Bilderbuch-Burgunder mit einer verführerischen Mischung aus selbstbewusstem Charakter und feinsinnigem Charme.

Wir beschlossen den Abend mit Weihnachtsgebäck und -pralinen – als alle Weine längst ausgetrunken und die meisten Hostelgäste schon auf ihre Zimmer gegangen waren. Zurück bleibt das glückliche Gefühl, uns selbst ein paar Stunden pures Leben geschenkt zu haben.


Klammer auf.

In einem besonderen Licht erscheint unser Hostel-Dinner vor dem Hintergrund einer Facebook-Diskussion einige Tage zuvor. Ich hatte in einem Tweet „Menschen, die nur aus Prestigegründen essen gehen“ (also, um zu zeigen, was sie sich insbesondere finanziell leisten können) als „bemitleidenswert“ und „würdelos“ bezeichnet und das in einem Kommentar dahingehend präzisiert, dass eine Frau, von der Freunde mir erzählt hatten, ihren Mann „desinteressiert und ahnungslos seit Jahren (!) in Sternerestaurants begleitet“; sie „schlürft gelangweilt Bordeaux Premier Grand Crus aus den Achtzigern“ und „meint, ihm einen Gefallen tun zu müssen, indem sie mitgeht (die Partnerin hat den Herrn zu begleiten, weil der sich profilieren will), und kann die kulinarischen Leistungen, die sie da erlebt, auch nach Jahren nicht würdigen“. Dass ich mich abschließend zu der Aussage hinreißen ließ, dann sollten die beiden solche Restaurantbesuche besser unterlassen, brachte mir von einem bekannten Weinblogger die – berechtigte – Kritik ein, „jemandem Abstinenz vom Edelrestaurant befehlen, weil seine Begleitung es nicht zu würdigen weiß“, sei wohl „noch blasierter [...] als die Dame“, über die ich mich echauffierte.

Diese Anmerkung gab mir zu denken, doch es zeigte sich, dass die Meinungen zur Sache unterschiedlich waren. Ein Kollege (von einem anderen Weinportal) pflichtete mir beinahe resignierend bei: „Egal wie enthusiastisch und versiert der Wein-Connaisseur, er dient letzten Endes doch nur den gelangweilten oberen Zehntausend.“ Ein Gastronom dagegen gab zu bedenken: „Ohne dieses Volk hätte mancher von uns keinen Job.“ Weinjournalist Mario Scheuermann schließlich glättete mit einer differenzierten Betrachtung die Wogen: „Sehen wir es doch mal ganz sachlich. Jeder Mensch muss wenigstens ein oder zwei Mal am Tag etwas essen. Wo und wie er das tut, ist ganz allein seine Sache bzw. wird bestimmt durch die Möglichkeiten, die sich ihm bieten oder nicht. Die Zahl der Menschen, die das tatsächlich nach ihrem Gusto tun, halte ich für sehr limitiert. Am oberen wie am unteren Ende.“

Die verschiedenen Kommentare machten mir die Tragweite meines Statements erst bewusst, und ich erkannte, dass es bei dem beschriebenen Phänomen um viele, teilweise miteinander verknüpfte Themen geht; vermutlich kann man es überhaupt nie ganz ausdiskutieren. Ich kann diese Prestige-Frage hier daher nur mit wenigen Stichwörtern, Thesen und Gedanken anreißen:

  • Zunächst ist sie vor dem Hintergrund von gesellschaftlichen Zwängen zu sehen. Manche Menschen müssen (vielleicht aber auch nur scheinbar?) Dinge tun, die sie nicht wollen. Die Kehrseite dazu hat Mario Scheuermann aufgezeigt: Viele Menschen können bestimmte Dinge nicht tun, die sie wollen würden. Auf den Punkt gebracht, geht es – und das meine ich hier in erster Linie finanziell – darum, mehr zu können als zu wollen (am so genannten oberen Ende) bzw. mehr zu wollen als können (am so genannten unteren Ende).
  • Mit dem Leben am „oberen Ende“ sind auch Schlagwörter wie Überfluss und Überdruss oder Langeweile im Luxus verbunden; was hier mitunter fehlt, sind Würdigung und Wertschätzung – durch Konsum und/oder Eigentum wird Ansehen gewissermaßen erkauft. Geld ist der einzig gültige Wertmaßstab – aber Genusssinn ist nicht käuflich, wohl ebenso wenig wie Stil oder der Respekt vor edlen kulinarischen Produkten (definiert beispielsweise nach Kriterien wie Seltenheit oder auch Nachhaltigkeit) und der Kunstfertigkeit in deren Zubereitung.
  • So hängen mit dieser Frage auch die irrational hohen Preise für Spitzen-Bordeaux sowie generell das Phänomen von Kultweinen zusammen. Die Preise, die in diesen Sphären gezahlt werden, lassen sich allein mit der Qualität (den natürlichen Gegebenheiten im Weinberg ebenso wie der Verarbeitung der Trauben) nicht erklären. Wiederum ist Geld der wesentliche Wertmaßstab. Auch die Diskussion um Wein als Spekulationsobjekt oder um Weine, die nur um des bloßen Besitzes gesammelt werden, ohne dass sie jemals (und womöglich noch mit Genuss) getrunken (und damit in diesem Kontext „entwertet“) würden, ist hier verankert.

Um an dieser Stelle noch einmal Missverständnissen vorzubeugen: Was bzw. wen ich für bemitleidenswert halte, sind nicht Menschen, die einen gewissen Wohlstand, Status und Sinn für Kulinarik haben, sondern Menschen, die etwas deshalb tun (beispielsweise in Sternerestaurants essen gehen), weil sie über die nötigen Geldmittel verfügen und andere beeindrucken wollen, aber an dem Erlebnis selbst eigentlich keine Freude haben und es nicht genießen und würdigen können.

Was wir mit unserem feinen Hostel-Dinner taten, war das genaue Gegenteil von solchem „Prestigismus“. Es ging ausschließlich um das Genießen und Erleben – für uns selbst, nicht für irgendein Umfeld und dessen Erwartungen. Wir wurden von unserer Umgebung kaum registriert – nur vereinzelt kommentierte man sinngemäß, dass wir es uns wohl gut gehen ließen –, und wir wollten auch gar nicht auffallen. Wir hatten das Edle im Unkomplizierten, der Abend war von Improvisation, von Schlichtheit und von der Konzentration auf das Essenzielle, auf den Wohlgeschmack, auf „Slow Food“ im Sinne eben dieser Bewegung geprägt; die Hostel-Küche war für uns die Alternative zu einer (bei dieser Gelegenheit nicht verfügbaren) Küche in einem Privathaushalt, wo dieses Essen genauso gut hätte stattfinden können – dann allerdings ohne die bereichernde Atmosphäre mit den vielen Menschen, die einfach authentisch und sich selbst genug waren und nicht ihre Potenz demonstrieren mussten oder einander mit irgendetwas zu übertrumpfen versuchten.

Das ist die Quintessenz der Prestige-Frage: Schein statt Sein und Abhängigkeit vom Urteil Dritter. Bei uns standen an jenem Abend im Frankfurt Hostel das Sein und die Unbekümmertheit im Mittelpunkt, und das machte den Wert dieser Stunden aus.

Klammer zu.