Jetzt ist er größenwahnsinnig geworden – ein eigenes Weinbewertungssystem? Angesichts der Überschrift kann ich eine solche Reaktion niemandem verdenken. Doch es geht hier nicht um Polemik, sondern um Pragmatik: eine kompakte Kategorisierung von Weinen für meine Verkostungsnotizen bei Twitter. Aber vorher noch Grundsätzliches.
Das Gebot der Zeichengrenze – kürzen und verschlüsseln
Angeregt zu dieser Idee wurde ich von Wein-Twitterer und Winzer Gottfried Lamprecht vom steirischen Weingut Herrenhof Lamprecht. Er sprach mich darauf an, dass meine Verkostungsnotizen bei Twitter, die hauptsächlich aus den sensorischen Wahrnehmungen (Geruch und Geschmack) bestehen, wenig weiterführende Informationen enthielten, beispielsweise zur Lagerfähigkeit oder zum empfohlenen Trinkzeitpunkt der Weine. Nun ist eines der wesentlichen Merkmale des Kurznachrichtendiensts Twitter ja die begrenzte Zeichenanzahl, die man für seine Nachricht (Tweet) zur Verfügung hat, nämlich maximal 140. (Allein der vorangegangene Satz hat übrigens bereits 182 Zeichen.) Dort eine komplette Weinbeschreibung unterzubringen, ist anspruchsvoll. Auf die Nasen- und Zungeneindrücke konzentriere ich mich deshalb, weil sie erstens das Wein-Erlebnis ausmachen (den Wein zu riechen und zu schmecken, sind die primären Wahrnehmungsformen und nicht zuletzt der Sinn und das Wesen des Weingenusses) und weil sie zweitens dem Rezipienten ein Bild davon vermitteln sollen, wie der Wein sich präsentiert, was für ein Typ er ist. So kann jeder entscheiden, ob – und wozu – er den Wein ausprobiert oder lieber nicht. Jemand, der etwa keine grüne Paprika mag und in einem Tweet als erste Duftkomponente genau das liest, wird den betreffenden Wein sehr wahrscheinlich nicht probieren. Wer dagegen Himbeeren liebt, wird einem Wein mit der Aromatik roter Beeren vermutlich durchaus aufgeschlossen gegenüberstehen. Ich stimme jedoch Gottfried Lamprecht darin zu, dass Informationen zum Charakter und Potenzial eines Weins hilfreich sind, nach dem Motto: jetzt kaufen und trinken oder jetzt kaufen und reifen lassen; und wenn letzteres, wie lange?
Aufgrund der begrenzten Zeichenanzahl bei Twitter – es geht wirklich nur darum; wo ich mehr Platz habe, beschreibe ich Weine ausführlicher – muss also ein Verschlüsselungssystem her, so wie die gängigen Weinbewertungssysteme auch nichts anderes als Kodierungssysteme sind. Doch welche gibt es überhaupt? Was wird dort im Einzelnen bewertet? Und welches System eignet sich gegebenenfalls für meinen Ansatz?
Von Parker- und anderen Punkten
Am bekanntesten sind die Bewertungssysteme mit fünf, 20 oder 100 Punkten. Dabei werden in jeweils unterschiedlichem Detailgrad stets ähnliche Kriterien beurteilt, untergliedert nach den Sinneswahrnehmungen von Auge, Nase und Mund. Die optischen Dimensionen eines Weins sind Farbe und Klarheit. Der Geruch lässt sich zerlegen in Reintönigkeit, Intensität, Qualität sowie gegebenenfalls Rebsortentypizität. Der Geschmack setzt sich zusammen aus Eindeutigkeit, Intensität, Qualität und Länge. Darüber hinaus wird der harmonische Gesamteindruck des Weins bewertet. Wie umfangreich die Regularien für eine professionelle Weinbewertung sind, zeigt die Norm, die die Internationale Organisation für Rebe und Wein (OIV) für Wein-Wettbewerbe aufgestellt hat; sie gilt aktuell in der Version von 2009. Die einzelnen Bewertungskriterien werden jeweils einzeln mit Punkten versehen, so dass jeder Wein am Ende eine Gesamtpunktzahl erhält. Beim 5-Punkte-System sind unter Umständen auch halbe Punkte zulässig. Die Gesamtpunkte werden dann mit Attributen von „fehlerhaft“ bis „ausgezeichnet“ (oder ähnlichen Begriffen) belegt, wofür beim 20- und 100-Punkte-System jeweils Punkteklassen gebildet werden. Gemäß dem 100-Punkte-Schema sind Weine mit weniger als 80 Punkten allenfalls befriedigend und eher unterdurchschnittlich. Da ja die Punkte der Einzelkritierien summiert werden, liegt die niedrigste überhaupt erreichbare Punktzahl bei 50. Weine von 80 bis 84 Punkten sind „gut“, Weine von 85 bis 89 Punkten sind „sehr gut“; Weine mit 90 und mehr Punkten sind „exzellent“, ab 96 Punkten zählen Weine zur Weltspitze. Der berühmteste Weinkritiker, der das 100-Punkte-System auch weltweit bekannt gemacht hat, ist der Amerikaner Robert Parker.
In Europa ist auch das 20-Punkte-Schema verbreitet, das etwa die britische Weinexpertin Jancis Robinson verwendet. Hier gelten Weine ab 12 Punkten als „gut“, zwischen 14 und 16 Punkten als „sehr gut“; Spitzenweine haben mindestens 18 Punkte. Im 5-Punkte-Schema entspricht jede volle Gesamtpunktzahl einer Kategorie; dieses System wird auch von der Deutschen Landwirtschaftsgesellschaft (DLG) bei der Vergabe der amtlichen Prüfnummer, die jeder deutsche Qualitätswein haben muss, angewandt.
Scheinbare Objektivität
Alle diese Bewertungssysteme versuchen, subjektive Eindrücke zu objektivieren. Die individuellen (und übrigens nicht nachweisbaren) sensorischen Empfindungen von (möglichst geschulten bzw. geübten) Einzelpersonen – Juroren – werden durch die Überführung in Punkte erstens quantifiziert und zweitens vergleichbar gemacht. Die Zusammenführung mehrerer solcher Beurteilungen ergibt dann ein statistisches Mittel und somit einen intersubjektiven Anhaltspunkt für die Qualität des Weins. Mehr aber auch nicht; denn das Geruchs- und Geschmacksempfinden eines jeden Menschen ist unterschiedlich, und aller Wissenschaft und Wortgewalt zum Trotz gibt es für jeden Menschen nur ein einziges gültiges Urteil zu egal welchem Wein: „schmeckt mir“ oder „schmeckt mir nicht“. Zwar lassen sich Aromen anhand ihrer chemischen Formeln nachweisen (und daher auch industriell reproduzieren), doch Wein zu trinken hat immer mit Emotionalität, Erinnerung und persönlicher Prägung zu tun. Weinbewertungen können daher immer nur eine Orientierung geben, sie haben niemals ausschließliche oder allgemeine Gültigkeit. Und doch brauchen wir sie.
Eine neue Ordnung
Was heißt das nun für die Suche nach einem Twitter-geeigneten Bewertungsschema? Selbstverständlich könnte ich mich eines der drei genannten Modelle bedienen und in jedem Tweet eine Punktzahl angeben. Aber wird damit das Ziel erreicht? Kriterien wie Reifegrad oder Lagerfähigkeit eines Weins bilden auch die Punktesysteme nicht oder nicht angemessen ab; das Potenzial eines Weins lässt sich allein davon ableiten, dass sehr gute und höher eingestufte Weine generell größere Entwicklungschancen haben als schwächer bewertete. Hier kommt wieder eine Vielzahl von Einflussfaktoren zusammen, darunter Güte und Reifegrad des Leseguts, Ausbau und Jahrgang. Ich habe mich daher entschlossen, tatsächlich eine eigene Kategorisierung einzuführen, die weder wissenschaftlich fundiert, noch empirisch erprobt ist, die aber ihrem Zweck genau gerecht wird. Sie geht über bloße Sensorik-Beschreibung hinaus und ist platzsparend einsetzbar. Die gebildeten Klassen sind naturgemäß subjektiv, doch mit diesem Schlüssel sollten mehr Rückschlüsse auf den Charakter des bewerteten Weins möglich sein als bisher. Dem System liegen drei Weintypen zugrunde, die um eine vierte Kategorie ergänzt werden. Dabei wird unterstellt, dass ich über Weine, die nicht mindestens als „gut“ zu bewerten sind, keine Verkostungsnotiz anfertige, denn meine Tweets verstehe ich als positive Kritik im Sinne von Empfehlungen. Die Kategorien werden bezeichnet mit V0 bis V3.
Kategorie V0
Die Bezeichnung V0 erhalten Weine mit dem Attribut „gut“ (d.h. zwischen 12 und 13 bzw. zwischen 80 und 84 Punkten). Sie sind fehlerlos und handwerklich sauber produziert, haben aber einen geringen Anspruch und einen geringen Erinnerungswert. Das sind Weine für den Alltag, die keinen besonderen Anlass brauchen.
Weine mit den Bezeichnungen V1 bis V3 entsprechen dem Attribut „sehr gut“ und besser (d.h. ab 14 bzw. ab 85 Punkten).
Kategorie V1
Weine mit der Bezeichnung V1 sind eher einfache Gewächse, passend für Einsteiger und für jede Gelegenheit. Eigenschaften, die ihnen zugeschrieben werden können, sind leicht, fruchtbetont oder frisch, so dass sie sich für den sprichwörtlichen Genuss auf der Terrasse eignen. Die Weine sind leicht zugänglich und haben eine rebsortentypische Aromatik. Sie sind eher jung zu trinken und haben ein Reifepotenzial von ein bis zwei Jahren.
Kategorie V2
Die Bezeichnung V2 tragen gehobene Weine, die für Kenner und Liebhaber geeignet sind. In ihren Beschreibungen kommen Begriffe vor wie Komplexität, Struktur, Frucht-Säure-Spiel oder Schmelz. Die Rebsorte kommt entweder besonders prägnant heraus, oder der Wein hat – im Gegenteil – eine außergewöhnliche Aromatik für seine Rebsorte. In jedem Fall ist er terroirgeprägt. Diese Weine lassen sich gut zum Essen einsetzen und haben ein Reifepotenzial von zwei bis fünf Jahren.
Kategorie V3
Die Bezeichnung V3 ist anspruchsvollen Weinen vorbehalten, die einen besonderen Anlass verdienen. Sie lassen sich beschreiben als gehaltvoll, körperreich, kräftig und lang. Der Genuss vor dem Kamin wird ihnen gerecht, denn sie brauchen Zeit und Aufmerksamkeit. Rebsorte und Terroir sind besonders finessenreich herausgearbeitet, und die Weine haben ein Reifepotenzial von mindestens fünf Jahren.
Keinesfalls werden sich alle Weine in dieses Schema einordnen lassen, und wie bereits betont, sind die sensorischen Wahrnehmungen der Menschen höchst individuell. Insbesondere die Situation, in der ein Wein getrunken wird, lässt sich nicht in derartige Modelle fassen. Insofern sollen die vier Kategorien Assoziationen wecken und lassen bewusst viel Spielraum, um Weine zu klassifizieren. Sie gelten nicht absolut, sondern als Tendenz und Orientierungshilfe. In dieser Funktion sollen sie meine Twitter-Verkostungsnotizen ergänzen. Ob sich dieser Ansatz bewährt, möge sich zeigen. – Kommentare und Erfahrungsberichte willkommen, am liebsten über Twitter, Facebook oder unter