Sechs Jahre nach meinem letzten Besuch bei Plaimont war ich vor einigen Wochen erneut im Südwesten Frankreichs eingeladen. Anlass waren die „Rencontres Ampélographiques“, die Plaimont am 30. Juni und 1. Juli dieses Jahres zum vierten Mal organisiert hatte. Diese Rebsorten-Tagung fand in Marciac statt, einem kleinen Ort im Département Gers. Sie ist Teil von Plaimonts Engagement für den Schutz und die Wiederbelebung alter, autochthoner Rebsorten der Region.
Über das Herzstück dieses Engagements habe ich in meinem Blog-Beitrag aus dem November 2019 bereits ausführlich berichtet: das „Conservatoire Ampélographique“. Eine aktuelle Reportage von mir dazu erschien vor wenigen Tagen im Online-Magazin von wein.plus: „Wenn Reben nicht in Rente gehen“. Sie basiert im Wesentlichen auf dem Interview, das ich kurz vor Beginn der Tagung mit Plaimont-Direktor Olivier Bourdet-Pees (rechts) geführt habe.
Dieser Blog-Beitrag soll dazu mehr Kontext liefern und gewissermaßen einen Rahmen schaffen. Er soll die Perspektive über Plaimont hinaus erweitern, denn zwei wesentliche Referenten der „Rencontres Ampélographiques“ kamen vom Institut Français de la Vigne et du Vin (französisches Weinbauinstitut – IFV): Forschungs- und Innovationsdirektor Laurent Audeguin und Agraringenieur Olivier Yobrégat. Mit ihnen waren wir nicht nur im Veranstaltungszentrum „L’Astrada“ in Marciac, wo die Tagung stattfand, sondern auch zu Ortsterminen in umliegenden Weinbergen und Naturflächen der Appellation Saint-Mont. Ich habe an den beiden Tagen sehr viel Neues gelernt und war der Rebe als Pflanze noch nie so nah.
Erhaltung und Erforschung alter Rebsorten
Beginnen wir – anknüpfend an die beiden oben verlinkten Artikel – im „Conservatoire Ampélographique“ von Plaimont, dem Rebsorten-Reservat in Sarragachies. Die Wissenschaftler bezogen sich auf diesen denkmalgeschützten Weingarten als „Parcelle Pédernade“: die Parzelle der Familie Pédebernade. Mit dieser Bezeichnung grenzten sie ihn ab gegenüber dem „Catalogue de Vassal“. Auf der Domaine de Vassal in Marseillan im Département Hérault befindet sich seit 1949 das zentrale französische Rebsorten-Konservatorium, das vom nationalen Forschungsinstitut für Landwirtschaft, Ernährung und Umwelt (INRAE) verwaltet wird.
Während das Rebsorten-Reservat von Plaimont seit 2007 nicht nur der Dokumentation, sondern auch der Forschung dient, ist die Domaine de Vassal ein reines Naturmuseum: Hier stehen jeweils zwei Stöcke von etwa 8.500 Rebsorten aus über 50 Ländern. Der Weinberg wird zum Katalog – den man in diesem Fall nicht durchblättern, sondern begehen kann. Die Domaine ist dabei das Weingut, die Institution dahinter heißt Centre de Ressources Biologiques de la Vigne (Zentrum für biologische Ressourcen der Weinrebe – abgekürzt: CRB-Vigne). „Das CRB-Vigne widmet sich ganz der Erhaltung, Bestimmung und Bewertung der genetischen Ressourcen der Weinrebe“, heißt es auf dessen Website. Gemeinsam mit dem IFV leitet das CRB-Vigne das Réseau Français des Conservatoires de Vigne (französisches Netzwerk der Rebkonservatorien), dem fast vierzig Einrichtungen angehören.
Bei der Erforschung der alten, oft unbekannten Rebsorten arbeitet Plaimont eng mit dem IFV, dem INRAE und der Agrarhochschule Montpellier zusammen. „Bei unbekannten Sorten machen wir DNA-Analysen – ähnlich wie in der Forensik“, erklärte Olivier Yobrégat vom IFV (oben). „Wir versuchen, Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Rebsorten zu ermitteln. Dabei liefern die Blätter 80 Prozent der Merkmale für die Sortenbestimmung.“ Inzwischen setzt das IFV sogar Künstliche Intelligenz ein, um eine Rebsorte anhand von Fotos ausgewachsener Blätter zu identifizieren. Auch von in der Region gefundenen Wildreben wird genetisches Material genommen, untersucht und konserviert. Die Triebe werden gepfropft und auf 25 bis 30 Stöcke pro Sorte vermehrt. „Dieses Projekt ist einzigartig in Frankreich“, betonte Yobrégat.
Wilde und wurzelechte Reben
Echte Wildreben besichtigten wir später in einem Waldstück. „Die Rebe hat ein genetisches Programm: Sie will an einem Baum emporranken und zusammen mit diesem wachsen“, erläuterte Olivier Yobrégat. Dabei werde der Rebstock für den Baum allerdings zur Konkurrenz beim Kauf um Sonnenlicht (für die Photosynthese), Wasser und Nährstoffe. An einer massiven Eiche konnten wir das selbst sehen: Einmal um den Stamm herum wand sich unten ein beindicker (also auch schon sehr alter) Rebstock und stieg dann senkrecht in die Höhe. Bei genauem Hinsehen waren im Blattwerk fast mehr Weinblätter als Eichenlaub zu erkennen. Und der Rebe schien es in der sommerlichen Hitze von 40 Grad besser zu gehen als dem Baum: Die Rebblätter waren kräftig grün, während viele der Eichenblätter schon braun und fast vertrocknet waren.
Unter der Eiche war noch etwas sehr Faszinierendes zu entdecken: Der Rebstock wuchs neben dem Baum aus der Erde heraus und dann wieder wieder in den Boden hinein. „Die Rebe ist auf der Suche nach weiteren Bäumen, um ihrem genetischen Programm zu folgen“, kommentierte Olivier Yobrégat das Phänomen. So könne eine einzige Wildrebe mehrere Bäume „bewohnen“.
Folgen der Reblaus-Katastrophe
Wildreben sind das eine, wurzelechte Reben das andere. Für dieses Thema ging Yobrégat gedanklich ins 19. Jahrhundert zurück. „1860 kam die Reblaus von Amerika nach Europa und zerstörte in den folgenden Jahrzehnten den größten Teil aller Weinberge“, erzählte er. Das Insekt befällt die Wurzeln der Rebstöcke, so dass die Pflanzen an Wasser- und Nährstoffmangel sterben. „Schutz bieten nur Böden mit sehr geringem Tonanteil, Sandböden, Böden aus Vulkanasche oder bestimmte Schieferböden. Überall anders müssen die Triebe der einheimischen Sorte auf resistente Unterlagsreben aufgepfropft werden.“ Da der Boden in Plaimonts Rebsorten-Reservat in Sarragachies vorwiegend aus braunem Sand besteht, finden sich hier noch wurzelechte, also nicht gepfropfte Rebstöcke, die bis zu 150 Jahre alt sind.
Gleichwohl gibt es auch in anderen Regionen und Ländern alte, geschützte Weinberge. Ein Beispiel aus Süditalien lieferte Emanuela Panke, Präsidentin der Vereinigung Iter Vitis. Iter Vitis (übersetzt: Weg der Rebe) ist eine Kulturroute des Europarats und vereint Orte in 26 europäischen Ländern, die einen besonderen Bezug zur Weinkultur haben. In einem alten Weingarten in Kalabrien kultiviert Iter Vitis je eine Rebsorte aus jedem Mitgliedsland. In der Region an Italiens Stiefelspitze kamen im Laufe der Geschichte viele unterschiedliche ethnische und kulturelle Einflüsse zusammen. „Die Ampelographie ist der Schlüssel zum Wein über die Kultur hinaus. Sie ist die Verbindung zu allem, von der Geschichte bis zur Geopolitik“, erklärte Panke, denn „manchmal teilen unterschiedliche Völker oder Volksgruppen dieselben Rebsorten“. Den alten kalabrischen Weingarten nannte sie ein „Freiluftmuseum von Rebsorten“.
Sortenvielfalt als Schlüssel
Das, was diesen Rebsorten-Museen, -Konservatorien, -Reservaten oder -Katalogen (wie auch immer man sie nennen mag) zugrunde liegt, ist die Biodiversität, also die Sortenvielfalt. Das Ziel, das Plaimont sich gesetzt hat, ist die Bewahrung und Wiederbelebung alter, fast ausgestorbener Rebsorten aus der Region am Fuße der Pyrenäen, um dem Klimawandel zu begegnen. Olivier Bourdet-Pees sagte eindringlich: „Wenn wir die Biodiversität verlieren, verlieren wir alle Möglichkeiten, uns zu wehren und anzupassen.“
Dabei reiche es nicht, nur Symptome mit mehr Technologie zu behandeln, sondern es gehe darum, Probleme zu beseitigen. Bourdet-Pees führte ein Beispiel aus Süditalien an. Dort habe ein Winzer seine Weinberge mit dem Wasser eines Brunnens bewässert. Im Laufe mehrerer Jahre habe er festgestellt, dass der Grundwasserspiegel von acht Meter auf 150 Meter (!) gesunken sei. Daraufhin habe er stärkere Pumpen angeschafft – anstatt den Weinberg an die veränderte Situation anzupassen und beispielsweise trockenheitsresistente Rebsorten zu pflanzen. „Wir brauchen verlässliche und dauerhafte Lösungen“, machte Olivier Bourdet-Pees deutlich, „und die Biodiversität gibt die Antworten für die Zukunft.“
Terroir und Identität
„Die Rebsorte ist ein großartiges Werkzeug, um das Terroir auszudrücken und an die Nachfrage der Konsumenten anzupassen“, fasste er zusammen. Der Winzer solle sein Wissen und Können im Weinberg einsetzen, um die Rebsorte und den Wein zu steuern. Dabei werde der Konsument zum Teil des Terroirkonzepts. „Das Terroir muss die Menschen interessieren. Eine Weinregion, die nicht ihre Anhängerschaft findet, wird sterben“, betonte Bourdet-Pees und formulierte denselben Gedanken auch umgekehrt: „Es gibt kein großes Terroir, das nicht seine Anhängerschaft gefunden hätte.“ Die Maxime sei: „Die Winzer sollen in Harmonie mit ihrer Zeit leben“, wobei mit Zeit sowohl das Zeitalter als auch der Zeitgeist gemeint sind. „Der Kampf gegen die eigene Epoche ist aussichtslos.“
Was Bourdet-Pees mit Anpassung meint, zeigt das Beispiel der alten regionalen Rebsorte Tardif. Sie ist bis heute genetisch nicht identifiziert und verdankt ihren Namen der langen Vegetationsperiode; der Austrieb erfolgt im April, die Trauben sind im Oktober reif. 1920 wurde die rote Sorte erstmals in einem Weinberg im Département Hautes-Pyrénées gefunden, 1999 auch in der „Parcelle Pédebernade“ entdeckt. Nach zwei Jahrzehnten der Beobachtung im Weinberg sowie Versuchen mit Mikrovinifikation ist sie seit 2020 als Nebenrebsorte in der Appellation Saint-Mont erlaubt. Als solche darf sie jedoch unter dieser Herkunftsbezeichnung nicht sortenrein ausgebaut werden und nur einen geringen Anteil in einer Cuvée haben; ein reinsortiger Tardif wäre ein „Vin de France“.
Plaimonts Ziel ist die volle Zulassung von Tardif für die AOP Saint-Mont – „doch bis dahin vergeht wahrscheinlich mehr Zeit als bisher für die Forschung“, mutmaßte Olivier Bourdet-Pees. Dennoch zeigte er sich zuversichtlich: „Ich bin davon überzeugt, dass Tardif in 20 oder 30 Jahren der Star in Saint-Mont sein wird.“
Zeiten im Wandel
Bevor eine alte Rebsorte wieder zur Weingewinnung angepflanzt werden darf, muss erst umfangreiche Forschung dokumentiert werden. Dabei geht es um die Kompatibilität von Rebstock und Unterlagsrebe sowie um die Kompatibilität von Unterlagsrebe und Bodentyp. Erst nach der Überprüfung und Genehmigung kann Plaimont seinen Winzern empfehlen, eine wiederbelebte Rebsorte in ein bestimmtes Terroir zu pflanzen. Dabei konzentriert sich die Genossenschaft vollkommen auf die Rebsorten in ihrem Konservatorium, auch beim Thema Pflanzenschutz. Neu gezüchtete Piwi-Sorten sind für Olivier Bourdet-Pees keine Option. Stattdessen wird überlegt, gegebenenfalls Gene, die für eine Resistenz gegen Krankheiten verantwortlich sind, in die alten Rebsorten einzufügen, um einen Ideotyp zu schaffen.
Seit 2012 hat Plaimont ein eigenes Forschungsteam, das seit 2021 von der 30-jährigen Agrarwissenschaftlerin Élodie Gassiolle geleitet wird. „Die Neugier und die Kreativität der Jugend sind wichtig“, sagte Olivier Bourdet-Pees dazu. Ziel sei es, Erfahrung und Erfindungsgeist miteinander zu verbinden. „Wir leben heute in einer Weinwelt, in der man alles neu erfinden muss.“
Bei Plaisance, einem der drei Hauptstandorte von Plaimont, entsteht gegenwärtig ein zweites „Conservatoire Ampélographique“. Dort hat das Forschungsteam jeweils 30 Rebstöcke von zwölf Rebsorten aus dem Weingarten in Sarragachies neu ausgepflanzt, unter anderem Manseng Noir, Tardif, Négret de Banhars, Morenoa, Miousap und Chacolis. Darunter ist auch die noch unbekannte rote Sorte Pédebernade 5, die selbst bei ausgereiften Trauben Weine mit lediglich 9,5 Volumenprozent Alkohol ergibt. Mit Blick auf den Klimawandel wird sie dadurch zu einem weiteren Hoffnungsträger.