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Ein besonderer Anlass verdient einen besonderen Wein, keine Frage. Aber kann man einen besonderen Wein (was auch immer das ist – ich gehe darauf noch näher ein) auch ohne speziellen Anlass öffnen? Ich sage: Ja, unbedingt! Man sollte es sogar viel öfter tun, denn das Leben ist kurz genug.

So genannt besondere Anlässe gibt es zuhauf: Geburtstage (runde, halbrunde, schnapszahlige und alle anderen), hohe kulturelle Feiertage wie Weihnachten und Ostern, Hochzeiten, Geburten, Taufen, Ausbildungs- und Studienabschlüsse, Wiedersehens- und Abschiedsfeste, Jubiläen und Jahrestage jeglicher Art – die Vielfalt ist riesig. Oft versammelt man zu diesen Gelegenheiten Menschen, die einem nahestehen, um sich, isst und trinkt mit ihnen zusammen, und da darf und soll es gerne der eine oder andere hochwertige Wein sein.

Hochwertig ist dabei gar kein so eindeutiger Begriff, wie es zunächst scheint. Worin bemisst sich denn der Wert eines Weins? Der Preis ist sicherlich ein Indikator, aber er gründet sich ja auf bestimmte Kriterien (Nachfrage, Verfügbarkeit, Herstellungskosten, Marken- und Imagefaktoren etc.). Die Herkunft und die Qualität sind andere Wertgrundlagen eines Weins (Ursprungsbezeichnung, Lagenklassifikation, Produktionsverfahren etc.). Ein Wein kann seinen – subjektiv empfundenen – Wert aber auch noch aus ganz anderen Kategorien beziehen: seinem Alter beispielsweise oder einer persönlichen Geschichte. Ein Wein, von dem ich weiß (oder zumindest annehmen darf), dass er gerade auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung ist, hat ohne Zweifel einen besonderen, hohen Wert. Die letzte Flasche eines Weins, mit dem ich ein emotionales Erlebnis verbinde (den ich erstmals mit einer bestimmten Person an einem bestimmten Ort getrunken habe oder etwas Ähnliches), hat ebenfalls einen besonderen Wert. Auch ein Wein, der sehr selten und entsprechend teuer ist (doch wieder der Preis), hat einen hohen Wert.

So lassen sich noch viele Beispiele für – mindestens subjektiv – hochwertige Weine finden. Und bei allen diesen Weinen soll ich nun auf einen besonderen Anlass im oben beschriebenen Sinne warten, bis ich sie öffne und (hoffentlich) genieße? Wer garantiert denn, dass die Entwicklung der Weine mit dem Auftreten von Anlässen positiv korreliert? Wir wissen: Es gibt nur einen Fall, der schlimmer ist, als einen Wein zu früh (also vor seinem optimalen Reifezeitpunkt) zu trinken, und das ist, ihn zu spät zu trinken.

Ich empfehle daher, die so genannt besonderen, hochwertigen Weine im Zweifelsfall selbst zum Trinkanlass zu machen. Bewusst genießen kann ich sie auch ohne eine irgendwie extern vorgegebene Gelegenheit – vielleicht sogar noch besser, denn dann konzentriere ich mich ganz auf den Wein selbst und bin nicht von zu viel Drumherum abgelenkt. Dabei rede ich gar nicht von eremitisch versonnener Kontemplation irgendwo (wogegen aber wiederum auch nichts spricht), sondern von der Würdigung und dem vollen sinnlichen Erleben eines Weins um seiner selbst willen in genusserprobter, hingebungsvoller Gesellschaft. Und selbst wenn der Wein in seiner ganzen Pracht einen eigentlich eher profanen Anlass begleitet, wertet er diesen durch seine Präsenz auf und wird seinerseits zum integralen Bestandteil, der (nicht die gesamte, aber genug) Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Ein Beispiel: Anfang dieses Jahres war der Neffe eines Freundes zu Besuch, und zum gemeinsamen Abendessen zu dritt an einem völlig unspektakulären Wochentag holte ich einen roten Premier-Cru-Burgunder des Jahrgangs 2001 aus dem Keller – weil ich Lust darauf hatte und die Stimmung gelöst war, und weil ich wusste, dass der Wein jetzt auf dem Optimum seiner Reife war; es war meine letzte Flasche. Der Wein präsentierte sich so strahlend schön, wie ich es erhofft hatte (um das zu erkennen und wertzuschätzen, brauchte es gar keinen wesentlichen Weinsachverstand), und wir alle waren begeistert (also gut, ich vermutlich am meisten). Zwar war ich vorher für verrückt erklärt worden, weshalb ich jetzt ohne besonderen Anlass (!) einen so hochwertigen Wein aufmachen wollte, aber es war absolut die richtige Entscheidung; das Ergebnis (nämlich der Genuss und das allseitige Wohlbefinden) zählt. Für mich bleibt dieser Abend nun für immer der, an dem wir diese Flasche Wein getrunken haben – sie selbst ist zum die Erinnerung bestimmenden Element geworden; sonst wäre das einfach ein (freilich in jedem Fall sehr angenehmer) Abend mit Freund und Neffe gewesen.

Und während ich diesen Text schreibe, sind mir noch zwei weitere Gedanken zum Thema gekommen: Zum einen die Einladung eines guten Freundes zu einem „perfekten Dinner“ für einen kleinen, hedonistischen Kreis von Menschen, die allein er alle kannte. Es gab ein mehrgängiges Menü, viele exzellente Weine (hochwertig im obigen Sinne) und stundenlange angeregte Gespräche. Hier war der Anlass selbst ein kulinarischer, aber er war vom Gastgeber selbst geschaffen (heißt: zeitlich frei gewählt) und nicht durch einen externen Termin definiert.

Zum anderen ist mir das Buch „Wein oder nicht sein“ von Uwe Kauss eingefallen, das ich bereits vor einigen Monaten gelesen habe. Hier geht es zumindest mittelbar auch um den Trinkanlass für hochwertige, teure Weine – verpackt in einen spannenden, hochemotionalen Roman. (Meine Rezension des Buchs ist im Wein-Plus Magazin zu lesen.)

Also: Sparen wir uns die edlen Tropfen nicht für die Ewigkeit oder irgendeinen „großen“ Anlass auf! Machen wir die wertvollen, besonderen Weine selbst zum Anlass und genießen wir sie, wenn uns danach ist und wir die Gelegenheit dazu haben! Dafür brauchen wir keine Feiertage – die Weine selbst werden die Tage adeln und uns noch lange genüsslich an sie zurückdenken lassen.