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Schätzungsweise mindestens 80 Prozent aller weltweit erzeugten Weine sind zum Verzehr innerhalb der ersten zwei Jahre nach der Lese bestimmt und auch so produziert. Sie sollen unkompliziert, primärfruchtig und sofort zugänglich sein. Das ist in Ordnung. Aber es gibt auch noch die anderen!

Die meisten Konsumenten wollen Weine, die frisch, leicht, eingängig und fruchtbetont sind; wohlschmeckend, ohne Ecken und Kanten. Jedes Jahr im Herbst können sie es kaum erwarten, bis der neue Jahrgang in den Handel kommt. So sind wir (inzwischen) erzogen: Jung ist gut, es bedeutet Vitalität und Attraktivität. Überall – nicht nur im Nahrungs- und Genussmittelbereich, sondern besonders auch im Hinblick auf Medien und Technologie – geht es stets darum, das Neueste zu haben, der Erste zu sein, immer schneller immer mehr Abwechslung zu bekommen. Beim Wein ist das bekannteste und eindrucksvollste Beispiel für dieses Phänomen der Beaujolais Primeur. Im Zuge der Globalisierung kommen jetzt, im Frühjahr, schon die ersten Weine des Jahrgangs 2015 von der Südhalbkugel auf den Markt. Weißweine von 2013 sind dagegen schon seit Monaten nahezu unverkäuflich – sie gelten als alt, und alt gilt als schlecht.

Mit „alten“ (also gereiften) Weinen können ohnehin nur die wenigsten Verbraucher – und auch nicht viele versierte Weintrinker – etwas anfangen. Diese haben nicht mehr die beliebten, leicht verständlichen (ja, von mir aus: „leckeren“) Primärfruchtaromen. Das muss man auch nicht mögen. Doch bis ein Wein nur noch von Tertiär-, also Reifearomen (die meistens nussig und erdig sind) bestimmt wird, dauert es – abgesehen von technisch hergestellter Massenware in billiger Supermarktqualität – durchaus mehr als zwei oder drei Jahre. Wie oft treffe ich Winzer, die auf Veranstaltungen ihren aktuellen Weißweinjahrgang anbieten, aber beim Plaudern bekennen, dass sie selbst zu Hause viel lieber den gleichen Wein trinken, der zwei, drei, vier und mehr Jahre älter ist. Dann kann ich immer nur begeistert beipflichten.

Über die Vorzüge gereifter Weine habe ich bereits vor gut fünf Jahren in meinem Blogbeitrag „Mut zum Alter“ geschrieben, und ich tue es jetzt wieder. Ein Wein, der im Holz ausgebaut worden ist, braucht Zeit, um diesen Einfluss zu verarbeiten und die Aromen vollständig einzubinden. Weine mit entsprechender Substanz werden mit einigen Jahren Reife tiefer, harmonischer und ruhiger. Sie büßen nicht sofort ihre Primärfruchtigkeit ein, sondern gewinnen an Balance und Ausdruck. Die dafür erforderliche Substanz hängt von mehreren Faktoren ab: Ertragsreduzierung, Terroir, ökologischer Anbau, Gesundheit des Leseguts und Behandlung im Keller sind einige davon.

Und jedes Jahr führe ich auf der ProWein (im März) und der Mainzer Weinbörse (Ende April) dieselben Gespräche mit den Ausstellern: Die Messen sind zu früh für die meisten Weine – auch für die Gutsweine, also die unterste Qualitätsstufe. Viele Weingüter präsentieren auf den wichtigsten Branchenveranstaltungen im Frühjahr Fassproben oder haben Weine dabei, die noch füllkrank sind, weil man ja zum Messetermin schon fertig sein musste. Das ist weder im Sinne der Weine und der Winzer noch im Sinne der Konsumenten und Händler (die dann stets behaupten, der Markt wolle das so; aber wer erzählt denn den Kunden, dass sie unbedingt so schnell wie möglich den neuesten Jahrgang trinken müssten?).

Weine, die schon bei ihrer Entstehung – im Weinberg und vor allem im Keller – ausreichend Zeit zugestanden bekommen, um sich zu langsam zu entwickeln und zu finden, sind stabiler, ausgewogener und charaktervoller. Und daher sollte man ihnen auch nach der Füllung die Zeit geben, sich zu sammeln, ihre Identität auszubilden, ihr Rückgrat zu formen, sich auszurichten und allmählich ihrem Höhepunkt entgegenzureifen. Gefragt ist also zweierlei: Geduld mit den reifefähigen (oder -bedürftigen) Weinen der neuen Jahrgänge und der Mut, sich auf Weine einzulassen, die älter als zwei Jahre sind. Sogar mit Weinen, die die ursprüngliche Trinkempfehlung längst überschritten haben, kann man großartige positive Überraschungen erleben. So dass es am Ende wieder auf eines hinausläuft: Neugier – den universellen Schlüssel zum Wein.