Master of Wine Caro Maurer schrieb im Feinschmecker 10/2016: „… eigentlich stehe ich mehr auf reife Jahrgänge. Mir gefällt diese dritte Dimension, die das Alter einem Weißwein verleiht. Sie belohnt das Warten mit neuen, vielschichtigen Eindrücken, mit der Harmonie aller Komponenten, dem Schliff und der Ruhe, die nur mit der Zeit kommen kann.“ Ein besseres Vorwort für diesen Beitrag kann ich mir kaum vorstellen, denn die Aussage bringt auf den Punkt, was (gute) alte Weine ausmacht.
Deren hatte sich im Laufe mehrerer Jahre eine gewisse Anzahl bei mir im Keller angesammelt, und um sie ihrer Bestimmung zuzuführen, lud ich ein paar vinophile Freunde ein. Gemeinsam begaben wir uns auf eine Entdeckungsreise über einen Zeitraum von über 50 Jahren – von 2012 bis 1961. Drei Gäste brachten sogar ihrerseits noch jeweils einen gereiften Wein mit, so dass wir schließlich auf zwölf Flaschen kamen, die es zu verkosten galt. Sie kamen aus Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich; nur eine davon war ein Rotwein.
Die Reihenfolge hatte ich vorher festgelegt – in Abhängigkeit von Alter, Rebsorte, Prädikatsstufe und meiner Erwartung an das Reifepotenzial. Wir erlebten dann auch alles, was bei einer Altweinprobe so möglich ist: Gewächse, die bereits das Zeitliche gesegnet hatten, deutlich gereifte Tropfen, die sich in passabler bis ansprechender Verfassung befanden, sowie ehrwürdige Kreszenzen, die sich mit Luft zu kaum geahnter Größe erhoben; und einen brachialen Korkfehler.
Die nachstehend wiedergegebene Abfolge der Weine entspricht der Verkostungsdramaturgie. Zusätzlich zu meinen sensorischen Eindrücken gebe ich bei den Gewächsen, die mir besonders gut gefallen haben, einen Favoritenstatus an; dieser reicht (regulär) von Stufe 1 bis Stufe 3.
2008 Rovereto Gavi DOCG, Ernesto Picollo, Piemont, Italien
- Flaschengröße: 0,75 Liter
- Verschluss: Naturkork
- Rebsorte: Cortese
- Sensorik: In der Nase gedeckt mit Noten von welken Pflanzen und überlagerten gelben Früchten sowie erdig-würzigen Tönen. Im Mund karamellige und nussige Töne, welk-pflanzliche Noten, kein Leben, zunehmend ranzig mit immer dominanterer Säure und Aromen, die an abgestandenes Blumenwasser erinnern.
2012 Hochheimer Kirchenstück Riesling trocken, Domdechant Werner, Rheingau, Deutschland
- Flaschengröße: 0,75 Liter
- Verschluss: Schraubverschluss
- Rebsorte: Riesling
- Sensorik: In der Nase reduktiv mit Noten von Petrol, Zitronengras, Zitrusfrüchten, Aprikosen und Kräutern. Im Mund sehr schlank und mineralisch mit Aromen von Zitronen sowie etwas Aprikosen und Kräutern, sehr präsente Säure.
2012 Hochheimer Domdechaney Riesling trocken, Domdechant Werner, Rheingau, Deutschland
- Flaschengröße: 0,75 Liter
- Verschluss: Schraubverschluss
- Rebsorte: Riesling
- Sensorik: In der Nase recht tief mit Aromen von Aprikosen, Kräutern und Petrol. Im Mund saftig und mineralisch mit Noten von Steinobst, Zitrusfrüchten und lebendiger Säure; viel Substanz.
- Favoritenstufe: 1
2007 Abymes Vin de Savoie AOC, Jean Derrier & Fils, Savoyen, Frankreich
- Flaschengröße: 0,75 Liter
- Verschluss: Naturkork
- Rebsorte: Jacquère
- Sensorik: In der Nase Aromen von Nüssen, Karamell und Marzipan sowie etwas überlagerten gelben Früchten. Im Mund eher leblos mit präsenter, zunehmend spitzer Säure, Aromen von weißen Früchten, nussigen und etwas erdig-mineralischen Tönen sowie leicht karamelligem Schmelz im Abgang.
2011 „Le Cul de Fussey“ Bourgogne Hautes-Côtes de Beaune AOC élevé en fût de chêne, Domaine Le Bout du Monde / Lionel Dufour, Burgund, Frankreich
- Flaschengröße: 0,75 Liter
- Verschluss: Naturkork
- Rebsorte: Chardonnay
- Sensorik: Korkfehler.
2011 „einsmehr“ Silvaner ganz trocken von Hand gelesen, Karl Bajano,
Franken, Deutschland
- Flaschengröße: 1,0 Liter
- Verschluss: Schraubverschluss
- Rebsorte: Silvaner
- Sensorik: In der Nase vegetabile, gelbfruchtige, nussige, kräuterige und etwas erdige Noten. Im Mund herb (eben wirklich „ganz trocken“) mit Aromen von Melonen, Kernobst und Kräutern, vegetabilen Tönen, kühler Mineralität, feinem Schmelz, feiner, eingebundener Säure, Kraft, Zug und Nachhaltigkeit. Mit Luft öffnet er sich immer weiter und bekommt mehr Saft.
- Favoritenstufe: 2
2005 „Meisterstück“ Naumburger Steinmeister Gutedel im Holzfass gereift, Herzer, Saale-Unstrut, Deutschland
- Flaschengröße: 0,5 Liter
- Verschluss: Naturkork
- Rebsorte: Gutedel
- Sensorik: In der Nase Aromen von Holz, roten Beeren und Nüssen sowie pflanzlich-würzige Töne. Im Mund saftig und sehr geradlinig mit Noten von gelben Früchten und Nüssen, lebendiger, feiner Säure, zartem Schmelz und feiner Süße, durchaus nachhaltig.
- Favoritenstufe: 2
1980 Rüdesheimer Berg Schlossberg Riesling Kabinett, Balthasar Ress, Rheingau, Deutschland
- Flaschengröße: 0,75 Liter
- Verschluss: Naturkork
- Rebsorte: Riesling
- Sensorik: In der Nase Aromen von Fenchel, Kräutern, Tabak, luftgetrocknetem Schinken, schwarzen Nüssen und Champignons. Im Mund zuerst sehr schlank mit präsenter Säure und Noten von Limetten, Tabak und Minze. Mit Luft mehr Zug, saftiger und immer komplexer, Noten von Aprikosen (von zunehmender Reife) und Zitrusfrüchten, deutlichere Tabakwürze, viel Schmelz, feine Säure, lang.
- Favoritenstufe: 3
1971 Ruppertsberger Geisböhl Riesling Spätlese, Dr. Bürklin-Wolf, Pfalz, Deutschland
- Flaschengröße: 0,75 Liter
- Verschluss: Naturkork
- Rebsorte: Riesling
- Sensorik: In der Nase fein mit Aromen von gerösteten Nüssen, getrockneten Aprikosen und getrockneten Kräutern. Im Mund sehr fein, geschliffen und saftig mit Noten von Limetten, Karamell und Nüssen, feiner Säure und kühlen mineralischen Tönen, animierend.
- Favoritenstufe: 3
1971 Gewürztraminer, J. Hofstätter, Südtirol, Italien
- Flaschengröße: 0,75 Liter
- Verschluss: Naturkork
- Rebsorte: Gewürztraminer
- Sensorik: In der Nase florale Noten und diffuse Würze. Im Mund ziemlich
neutral mit Anklängen an Jod und etwas Karamell sowie präsenter Säure.
1981 Mörbischer Traminer Beerenauslese, Margarethe Marx, Burgenland, Österreich
- Flaschengröße: 0,375 Liter
- Verschluss: Naturkork
- Rebsorte: Traminer
- Sensorik: In der Nase zuerst fast ein wenig schärfend, Aromen von Nüssen, Kräutern und Tabak, florale und rauchige Töne sowie Noten von getrockneten gelben Früchten. Im Mund Aromen von karamellisierten Nüssen und reifem Steinobst, florale Noten, eingebundene Säure und feine Süße.
- Favoritenstufe: 1
1961 Croix du Pape Châteauneuf-du-Pape AOC, Caves Saint-Georges / J. Buxtorf, Wichelhausen & Co., Rhône, Frankreich
- Flaschengröße: 0,75 Liter
- Verschluss: Naturkork
- Rebsorte: Cuvée
- Sensorik: In der Nase Aromen von Gewürzen, Laub, gerösteten Kakaobohnen, Nüssen und getrockneten Beeren. Im Mund kühl, dicht und mineralisch mit geschliffener beeriger Frucht, Gewürznoten, feinem Biss und feinem Saft. Mit Luft Noten von Brombeeren, Liebstöckel und Pfeffer, immer saftiger mit zunehmend weicher Frucht; sehr komplex und fein. Er braucht nur wenige Minuten im Glas, um seine volle Pracht und Struktur zu entfalten und weiß genau, wo er hin will; dann bleibt er etwa 20 Minuten stabil stehen. Was seine Textur auszeichnet, ist eine anhaltende, feine Spannung zwischen Zunge und Gaumen. Er ist bemerkenswert zugänglich – wie eine Skulptur, die sich von allen Seiten betrachten und sogar anfassen lässt – und gleichzeitig unerschütterlich; sehr selbstbewusst, erhaben und wohlwollend. Zweifellos der beeindruckendste Châteauneuf-du-Pape, den ich je getrunken habe.
- Favoritenstufe: 4 (sprengt das Raster)
Vor allem die drei am höchsten favorisierten Weine bestätigten eindrucksvoll und genussreich das, was Caro Maurer mit ihrer eingangs zitierten Aussage meinte: der lebendige, komplexe und ausdrucksstarke 1980er Rüdesheimer Berg Schlossberg Riesling Kabinett von Ress, der runde, ausgeglichene 1971er Ruppertsberger Geisböhl Riesling Spätlese von Dr. Bürklin-Wolf, der für sein Alter einen geradezu absurden Trinkfluss an den Tag legte, und der 1961er Croix du Pape Châteauneuf-du-Pape, der (im Gegensatz zu der Flasche dieses Weins, die wir vor zwei Jahren geöffnet haben und die dann innerhalb von nur zehn Minuten eine sensorische Achterbahnfahrt vollführte) nach über einem halben Jahrhundert mit überwältigender Feinheit, Festigkeit und Balance aufwartete. Eine Sternstunde!