Irgendwann bei einer Probe in den vergangenen Wochen habe ich den Ausspruch geprägt: „Jeder Wein hat das Recht, mich positiv zu überraschen.“ Einerseits ein Plädoyer für den aufgeschlossenen und unvoreingenommenen Umgang mit Wein, andererseits Ausgangspunkt für Überlegungen, die eine Analogie in der Tierwelt suchen.
Ein guter, vorzugsweise und erfahrungsgemäß naturnah (im Idealfall biodynamisch) erzeugter Wein ist für mich wie eine Katze. Ich betrachte jeden Wein als Persönlichkeit – wie ich auch schon in meinem allerersten Blogbeitrag geschrieben habe) – und gestehe ihm insofern einen eigenen Charakter zu. Dieser ist zum einen durch das Terroir (das Zusammenwirken von Rebsorte, Boden, Klima und Winzer) geprägt und bestimmt zum anderen das Verhalten nach der Abfüllung. Ausgehend von der durch die Produktion vorgegebenen Prädisposition und den Lager- bzw. Reifebedingungen entwickelt sich der Wein in der Flasche ganz individuell.
Die Weine, die ich hier meine, sind im wahren und besten Sinn des Wortes eigenwillig: Sie sind unberechenbar, nicht zähmbar, gewissermaßen „wild“ – wie Katzen, die ihren eigenen Kopf haben. Ihre Entwicklung lässt sich nicht oder nur sehr schwer vorhersehen. Das ist in diesem Zusammenhang keine Frage der Verkostungskompetenz, um das Reifeverhalten eines Weins richtig prognostizieren zu können. Natürlich und zu Recht wird von einem professionellen Weinkritiker erwartet, dass er eine Trinkempfehlung abgeben und abschätzen kann, bis wann ein Wein mit Genuss zu trinken sein wird. Dafür muss der Experte unzählige Weine ähnlichen Typs, ähnlicher Herkunft und ähnlichen Stils über so viele Jahrgänge wie möglich probiert haben.
Darum geht es mir hier jedoch nicht. Ich mag es, wenn Weine sich – im positiven Sinne – nicht wie vermutet entwickeln, wenn sie neue Charakterzüge offenbaren, unerwartete (bereichernde) aromatische Wendungen vollziehen. Ich bin ein großer Freund davon, Weine so wenig wie möglich zu behandeln: nachhaltiger Anbau, minimaler Eingriff im Keller. Dann erlangen sie eine eigene Persönlichkeit und werden zu katzenhaften Gewächsen: Mal schmiegen sie sich an und schnurren zutraulich, mal zeigen sie ihre Krallen, kratzen und fauchen. Beides gehört dazu. Und beides dürfen sie bitte ausdrücklich!
Dieses Prinzip gilt grundsätzlich für alle so genannten Natur- oder auch Experimentalweine – ob biodynamisch erzeugt, durch Maischegärung aus weißen Trauben entstanden, in Amphoren, Betoneiern oder anderen unkonventionellen Behältnissen vergoren, oxidativ ausgebaut, jahrelang auf der Feinhefe belassen, ungeschwefelt abgefüllt oder wie auch immer. Je mehr der Winzer einen Wein sich selbst überlässt, desto größer ist das Risiko für ihn, denn der Wein kann sich auch negativ entwickeln und wird selbst im positiven Fall nur eine begrenzte Kundengruppe ansprechen. Mit Mainstream und Massengeschmack hat das alles nichts zu tun; der durchschnittliche Konsument will Verlässlichkeit, Berechenbarkeit und Primärfrucht. Das ist auch absolut sein gutes Recht; davon lebt der Weinmarkt weltweit.
Konventionell (zumal industriell) hergestellte Weine sind jedoch eher wie Herdentiere: Sie folgen Vorgaben und können nur eingeschränkt einen eigenen Charakter entwickeln. Abgesehen von der Ertragsbegrenzung sind ökologischer Anbau mit minimalem Einsatz von Pflanzenschutz- und Düngemitteln, Biodiversität im Weinberg und ein gesunder Boden die Schlüssel zur Weinqualität. Schon in den Trauben stecken die Anlagen des späteren Weins. Wer als Winzer der Natur ihre Freiheiten lässt und sie allenfalls in ihrem Wirken unterstützt, indem er günstige Rahmenbedingungen schafft, kann am Ende Katzenweine erhalten. Wie die Tiere werden sie ihre eigenen Wege gehen und den Menschen gelegentlich daran teilhaben lassen. Und demjenigen, der sich auf sie einlässt und sich ihnen zuwendet, werden sie ihre Zuneigung schenken.