Man kann mir für diesen Blogbeitrag Kleingeistigkeit und Polemik vorwerfen, weil er durchaus in einer überheblichen „Das-tut-man-nicht“-Attitüde daherkommt, aber er liegt mir am Herzen. Denn seit Wochen regt mich zunehmend die Unsitte auf, dass Weingläser – die üblicherweise einen Stiel haben – am Kelch angefasst werden.
Ein Weinglas, das diesen Namen verdient, hat aus guten Gründen einen Stiel. Nicht, damit es beim Essen das Gesicht des Gegenübers am Tisch verdeckt oder damit es leichter umfällt. Auch nicht (oder zumindest nicht in erster Linie), weil es eleganter aussieht. Ein Weinglas hat einen Stiel, gerade eben damit man es explizit an diesem halten kann. Die Hand verströmt Wärme und bestimmte Geruchsstoffe. Beides trübt den Weingenuss. Ein Wein, der zu warm ist – und das geschieht eben schneller, wenn die körperwarmen Finger oder gar die ganze Handfläche sich um den mit Wein gefüllten Kelch des Glases legen – büßt viele seiner feinen Aromen ein, weil sie sich zu schnell verflüchtigen, und lässt den Alkohol stärker hervortreten. Und wenn man das Glas am Kelch hält, während man es zur Nase oder zum Mund führt, können die an der Hand haftenden Gerüche – von Speisen, vom Besteck (aus Metall oder Edelmetall) oder auch von Seife, um nur einige Beispiele zu nennen (von der Ursache harmlos, vom Effekt ganz erheblich) – die Aromen des Weins überdecken, verfälschen oder in anderer Weise beeinträchtigen. Daher gebietet es nicht nur das sittliche Empfinden, sondern auch die Sachlogik, ein Weinglas stets am Stiel zu greifen.
Ich beobachte jedoch immer wieder so genannte Genießer und Weinfreunde und sogar auch Weinprofis (Händler, Dozenten, Autoren), wie sie das Weinglas am Kelch greifen – freilich eher seltener beim Trinken, aber allein schon, wenn sie das tun, um das Glas aufzunehmen, reicht es aus, um mich in einen Alarmzustand zu versetzen, dessen Signal lautet: „Das ist falsch!“ Mindestens ebenso ärgerlich: Fotos, die im Internet zur Illustration von redaktionellen oder Marketingtexten angeboten werden, zeigen beim Motiv „Weingenuss“ oft Menschen, die die Weingläser am Kelch halten. Diese Fotos sind unbrauchbar – vielleicht (leider) lebensnah, aber angesichts des erzieherischen (oder zumindest aufklärerischen) Auftrags, den Medienpublikationen haben, genau diesem Ziel entgegenwirkend.
Meine Befindlichkeit – oder besser: Empfindlichkeit in dieser Angelegenheit rührt von meiner gastronomischen Ausbildung her, in der ich mit als erstes gelernt habe: Weingläser fasst man ausschließlich am Stiel an, aus den genannten Gründen. Und noch aus einem weiteren Grund, denn Finger sind immer fettig. Sie hinterlassen Abdrücke auf dem Glas, das der Gastgeber – ob im privaten Rahmen oder im Restaurant – mit Sorgfalt und einigem Zeitaufwand poliert hat. Fingerabdrücke trüben erstens generell das ästhetische Bild und zweitens insbesondere die Urteilsfähigkeit über die optische Qualität des Weins (Klarheit, Farbe). Es gibt nur noch einen größeren Fauxpas als ein Weinglas am Kelch anzufassen, und das ist, in ein Glas hineinzugreifen. Hier kommt neben der ästhetischen Komponente noch die hygienische hinzu.
Insofern muss sich jeder, der beruflich mit Wein zu tun hat und ein Weinglas am Kelch nimmt oder hält, von mir den Vorwurf der Unprofessionalität gefallen lassen, und jeder andere, der das tut, zumindest den Vorwurf der mangelnden Sensibilität. Dem Respekt vor dem Wein ist es geschuldet, das Glas am Stiel zu fassen und festzuhalten. Alles andere ist der Sache nicht angemessen und stillos. Denn guter Stil zeigt sich im Griff zum Stiel.